17. Juni 2014

Drahteselrunden

Ich packe meinen Rucksack, und gehe im Geiste durch, ob ich auch nichts vergessen habe. So schwer wie die Wasserflaschen in den Rucksack, so schwer liegt mir noch das Mittagessen im Magen. Immer wieder werfe ich einen Blick nach draußen, schaue ob sich das Wetter hält. Weiße, flauschige Wolken zeigen sich am Himmelsrand, die Sonne zeigt sich seltener als Vormittags. Regen wurde angekündigt, schauerhaft und eher kurz.
Meine Mutter wirbelt ebenso in der Wohnung herum. Es kommt nicht oft vor, dass ihre beiden Töchter zusammen daheim sind, daher werden Ausflüge immer spontan unternommen.
Ich merke, dass sie noch aufgeregter ist als ich, dabei gibt es überhaupt keinen Grund, aufgeregt zu sein. Lediglich eine Fahrradtour über die Dörfer, vorbei an blühende Felder und grüne Bäume, deren Obst noch nicht reif ist. So wie damals vor 10, 20 Jahre.
Meine Schwester quengelt herum und läuft jeden in die Beine, der ihr in dem Weg kommt. Nur mein Vater sitzt seelenruhig in seinen alten Sessel und schaut sich eine Tierdoku an. Wie immer hält er sich aus den Aktivitäten heraus, und hütet anstelle der sportlichen Bewegung das Haus.
Ich bin fertig und suche noch einmal die Toilette auf. Skeptisch schaue ich hinaus und suche die dunkleren Wolken am Horizont. Vor der Tür höre ich es summen, was nur meine Schwester sein kann. Schon seit Tagen summt sie herum, und immer nur diese eine Melodie aus Verwünscht.
Meine Mutter schreit, dass sie draußen auf uns wartet und unsere Drahtesel bereit stellt. Ich beeile mich und löchere meine kleine Schwester mit Fragen, bevor später wieder Unstimmigkeiten herrschen. Hat sie ihr Kuscheltier dabei, welches sie stets mit sich herum schleppt? Muss sie noch mal aufs Klo? Hat sie einen Haargummi dabei, falls ihr die Haare stören? Hat sie ihre Trinkflasche eingepackt, welche ihr Lieblingsgetränk, Apfelsaft, enthält?
Nachdem alle Fragen geklärt sind, machen wir uns auf nach draußen. Sie rennt vor und durch den hiesigen Garten. Gerade rechtzeitig schiebt sich die Sonne hervor und lässt den Garten strahlen. Die bunten Blumen leuchten, die Blätter funkeln, selbst das Gras ist so erhellt, dass man am liebsten mit der Hand hindurch fassen möchte.
Mein Drahtesel lehnt an der Wand des Schuppens und meine Mutter wischt die letzten Spinnweben ab. Meine Schwester tänzelt herum und will mich mitreißen. Ich stimme in ihr Lächeln ein und jage ihr hinterher. Sie kichert und ruft ständig: "Du kriegst mich nicht. Du kriegst mich nicht."
"Los jetzt!", ruft meine Mutter und wir gehorchen. Jeder schnappte sch sein Rad und drehte noch schnell eine kleine Runde auf dem gepflasterten Vorplatz der Garage, währenddessen unsere Mutter das Tor aufsperrte, um uns durch den Hinterhofeingang zu lassen.
In mir stieg eine Vorfreude auf, die ich schon lange nicht mehr verspürte. Ich lächelte der Sonne entgegen und hoffte, dass sie uns weiterhin hold sein wird.
Wir fahren durch unser Dorf und ich schaute neugierig die Grundstücke und Häuser an, immer auf der Suche nach Veränderungen. Früher ist mir gar nicht aufgefallen, wie schön es hier ist. Zum Ende hin kommt ein kleiner Teich. Dicke grüne Büsche wachsen an ihm und eine bunt bemalte Bank lud zum sitzen ein. Generell sind überall grüne Flächen zu sehen. Die Gärten sind gepflegt und selbst die Straße wies keine Schlaglöcher oder Unebenheiten auf.
Wir radeln die Feldern entlang. Der Wind säuselte in meinen Ohren und blies mir sanft die Haare aus dem Gesicht. Noch immer schien die Sonne und ich musste meine dünne Sweatshirtjacke ausziehen. Meine Schwester kommentierte, was sie gerade sah. Da waren Vögel, Hasen, Füchse, Schnecken und Flugzeuge. Bei einigen Sachen war ich mir sicher, dass sie diese nur erfand.
Das Weizenfeld rechts neben uns leuchtet golden, wie herrlich es aussah. Am Straßenrand stehen vereinzelte Mohnblümchen, die in ihrem knalligen Rot strahlten. Auf der linken Seite stand der Raps in voller, gelber Blüte. Farben, wie sie nur in der Natur vorkamen.
Allmählich rücken die dunklen Wolken näher, auf die ich schon die ganze Zeit gewartet habe. Sie sehen wirklich so aus, als würden sie uns mit voller Kraft durchnässen wollen. Ich schrie zu meiner Mutter nach vorne, dass wir uns beeilen müssen.
Unser erster Stop war die neue Eisdiele im Nachbardorf. Es dauerte auch gar nicht lang, da waren wir schon dort. Pünktlich auf der Sekunde, und damit übertreibe ich wirklich nicht, konnten wir uns mit jeweils eine Kugel Eis unters Pavillion retten, das uns Schutz vor den mächtigen Schauer gab. Knapp eine halbe Stunde schüttete es von oben, als wäre es mal wieder bitter nötig gewesen. Ich hatte meine Kugel wie immer als erster aufgegessen, und versuchte scherzhaft von dem Eis meiner Schwester abzubeißen, woraufhin sie es immer wegzog und kicherte.
Ich beobachte, wie die Regentropfen auf den anderen Tischen, die nicht überdacht waren, kleine Blasen schlugen und seitlich ein kleiner, feiner Wasserfall hinunter plätscherte.
Nach kurzer Minute, die jeder für sich genoss, zog ich meine Kamera aus meinen Rucksack und drückte mich an meiner Schwester. Als sie sah was ich vorhatte, ein Selbstportrait von uns beiden, steckte sie mir die Zunge heraus. Ich wusste, dass sie das tun würde, und tat es ihr gleich. Wir lachten über das Bild und nahmen aufs nächste unsere Mutter mit drauf. Nach dem dritten Bild ermahnte sie uns, dass wir keine Fratzen machen sollten und mal vernünftig lächeln sollten, was wir dann auch taten.
Als es abrupt aufhörte und wenige Minuten später uns die warmen Sonnenstrahlen wieder entgegen kamen, machten wir uns wieder auf. Wir wischten unsere Sattel mit Taschentücher ab und ich hoffte, dass ich nicht trotzdem einen feuchten Po kriegen würde.
Wir fahren weiter an ebenso schöne Felder, wie vorher. Kurzzeitig fuhren wir durch eine Allee, deren Bäume und Büsche uns halb im Weg hingen. Ich erinnere mich noch daran, wie wir früher oft hier her gekommen sind, um uns die Bäuche mit Marillen, Äpfel und Birnen vollzuschlagen. Meine Mutter nahm immer etwas mit und backte später leckeren Kuchen. Ich kann den betörenden Backduft förmlich riechen, und wie gerne hätte ich jetzt ein selbst gebackenes Stück Kuchen.
Wieder zogen graue Wolken auf und ich befürchtete, dass wir diesmal nicht verschont bleiben würden. Meine Mutter sagte nur, dass wir doch nicht aus Zucker seien, und dass wir dann vielleicht noch etwas wachsen würden. Meine Schwester lachte und entgegnete, dass sie schon groß genug sei.
Als wir nach 45 Minuten allmählich genug Natur geatmet hatten, ein weiteres Dorf hinter uns ließen und zwischendurch einige Schlucken Wasser und Saft zu uns nahmen, machten wir uns auf den Rückweg. Wir sangen Lieder aus Kindheitstagen, klingelten mit unserer Fahrradklingel wild durcheinander und grinsten, erst recht als unsere Mutter über das nervige Geklingel schimpfte. Trotz der dunklen Wolken bekamen wir nur wenige Tropfen ab. Meine Mutter säuselte immer wieder: "Wenn Engel reisen..."
Wieder in unserem Dorf angekommen, planten wir den restlichen Abend. Meine Schwester fuhr neben mir und schrie, dass sie die Couch für sich alleine reservierte. Auf die Frage meiner Mutter, wo die anderen sitzen sollen, zuckte sie mit den Schultern. "Draußen bei den Blumen", antwortete sie und wäre beinahe mit ihrem Rad gestürzt, als sie sich nach hinten umdrehte und eine dicke Wurzel vor ihr übersah.
Wir rollten auf unseren Hof ein und stellten die Räder unters Carport. Mich zog der Kirschbaum an und ich mopste mir einige rote Früchte von ihm. Meine Schwester rannte gleich ins Hausinnere, um die Couch für sich einzunehmen.
Ich blieb noch ein paar Minuten draußen und genoss die letzten Sonnenstrahlen, die vor den Wolken hin und wieder hervor kamen.

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