Als er den überfüllten Marktplatz erreichte, ertönte das gewaltige
Schlagen der Turmuhr. Sieben Mal donnerte die Uhr, und er wusste,
dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Die Sonne sank tiefer und warf
lange Schatten um den Marktplatz herum.
Er ignorierte die lockenden Rufe der Marktstandinhaber, die wild
durcheinander ihre Waren zu günstigen Preisen anpriesen. Er kümmerte
sich auch nicht um die herumstehenden Marktbesucher, um die
umherrennenden Kinder und um die streunenden Tiere. Seine Augen
blendeten alles aus, sie wollten nur eins finden, ihr Gesicht, und ihre helle Haarmähne, die es umgab.
Er irrte haltlos umher, ging jeder Gasse nach und durchkämmte jeden
kleinsten Winkel. Er versuchte, sich in sie zu versetzen; sie war
verletzt, hatte nichts bei sich, und im Grunde wusste sie auch nicht,
wo sie hin sollte, so kam es ihm vor. Vielleicht war sie aber auch
schon längst in Sicherheit, oder gar nicht mehr in der Stadt, dachte
er.
Er drängelte sich durch das Herzstück des Marktplatzes, um auf
der anderen Seite zu suchen. Gerade, als er die wenigen Stufen zu
einem Café hinauflaufen wollte, welches an einer unscheinbaren
Seitenstraße lag, sah er aus den Augenwinkel etwas Helles
aufblitzen. Nur flüchtig und kaum wahrnehmbar.
Abrupt drehte er den Kopf in die Richtung und suchte gierig wie ein
Tier, das Witterung aufgenommen hatte, die Stelle ab. Er versuchte
den hellen Punkt einzufangen, zwischen den vielen, grauen Menschen.
Wo war er nur, fragte er sich.
Und dann, als sich die Masse für Millisekunden lichtete, sah er ihn.
Er hastete los, ohne darüber nachzudenken, ob er das Richtige sah.
Es war sein einziger Anhaltspunkt, seine einzige greifbare Hoffnung.
Er quetschte sich an Menschenkörpern, riesigen Pallettentürmen und
Ständen vorbei.
Es kam ihm vor, als wollten ihn die Marktbesucher mit Absicht nicht
durchlassen. Frauen mit großen Einkaufskörben, Mütter mit ihren
Kindern an der Hand und Standverkäufer mit riesigen Kisten kamen ihn
ständig in die Quere. Jeder plapperte wirr daher, Kinder schrien,
Männer verhandelten, und die Verkäufer läuteten die letzte
Einkaufsstunde ein und boten schreiend ihre Ware noch günstiger an.
Er kam dem Punkt immer näher, und als er es endlich schaffte, ihn
zu erreichen, sah er doch nur den steinernen Springbrunnen, aus dem
ein brauner Hund seelenruhig trank. Kleine Mädchen mit geflochtenen Zöpfen, die am Brunnenrand saßen,
sahen auf und schauten ihn mit großen, runden Augen an.
Er sah sich um. Er hatte keine Zeit nachzudenken, er bog einfach
in die nächste Seitengasse ein, kaum so breit, dass drei Menschen
nebeneinander gehen konnten. Mülltonnen reihten sich aneinander, aus
manchen quoll der Müll schon heraus, und mit ihm unangenehme Gerüche.
Umgekippte Kisten und Kästen lagen in dem engen Gang und versperrten
den Weg, und er blieb beim Drübersteigen und Vorbeidrängeln oft
an herabstehenden Holzsplitter hängen.
Mit jedem Schritt, den er ging, nahm der Lärmpegel des Marktes ab.
Automatisch ging er langsamer, und suchte jede dunkle Ecke ab. Fast
am anderen Ende der Gasse angekommen und mit schwindender Hoffnung,
sah er zwischen einer großen Tonne und morschen Holzbrettern, die an
der Wand lehnten, Kleidung liegen. Beim Nähertreten konnte er im
Dunkeln gerade so eine Gestalt ausmachen; nur schwach reichte das
Markt- und Straßenlicht hier hinein.
Es war keine Seltenheit an solchen Orten Obdachlose, Penner und
Abzocker anzutreffen. Doch als er die schwach leuchtenden, langen
Haare sah, war er sich sicher. Hastig beugte er sich zu ihr
hinunter und ignorierte sein rasendes Herz.
Er fühlte ihren Puls und hievte sie hoch, sodass sie sich an der
kalten Steinwand des Gebäudes abstützen konnte.
„Hey, kannst du mich hören?“, fragte er flüsternd.
Sachte schüttelte er sie an den Schultern.
Sie stöhnte auf und kam langsam zu sich.
„Lass mich...schlafen...brennt alles“, nuschelte sie.
„Jaja, ich weiß. Du kannst aber jetzt nicht schlafen!“
Flüchtig schaute er zu dem verbundenen Arm, um den er sich selbst
noch vor Stunden gekümmert hatte. Er kramte in seiner Umhängetasche
herum und zog eine Wasserflasche heraus.
„Los komm, trink was. Ich hab hier auch etwas Zucker für dich.“
Er holte eine kleine Tüte mit Traubenzuckerbonbons aus der Tasche,
öffnete sie und schob ihr einfach eins in den Mund. Nur widerwillig
gab sie nach.
Sie öffnete langsam die Augen und ihr Blick schwirrte unkontrolliert
umher. Er sah, dass es ihr augenblicklich besser ging, ihr
Kreislauf schien sich zu stabilisieren. Er hielt ihr die
Wasserflasche an den Mund, und gierig nahm sie einige Schlucke.
„Hier, nimm noch ein Bonbon. Ich hab dich überall gesucht, du
kannst doch nicht einfach abhauen!“
Sie musterte ihn, sagte aber nichts. Er sprach einfach weiter:
„Ich bin wie ein Blöder durch die Stadt gerannt und habe dich
gesucht. Du kannst doch nicht einfach weglaufen! Ich weiß zwar nicht
genau, was mit dir passiert ist, aber dass du Hilfe brauchst, ist ja
wohl offensichtlich! Was ist los mit dir? Du hast da echt eine fiese
Wunde! Wir sollten doch lieber ins Krankenhaus fahren.“
„Ich werde nicht ins Krankenhaus gehen, und was passiert ist, ist
nicht relevant!" Sie schaute ihn nicht direkt an. "Ich hab alles unter Kontrolle!“, entgegnete sie
erschöpft aber schnippisch.
Er lachte auf. „Ja, das seh ich. Du kannst ja nicht mal aufrecht
gehen. Willst du sterben?“
„Wäre vielleicht gar keine schlechte Idee.“
„Ach komm hör auf, Probleme kann man lösen, und auch wenn du
irgendeine schlimme Krankheit hast, kann man dagegen etwas
unternehmen! Ich kann dir da gut...“
„Hör auf!“, schnitt sie ihm, mit erhobener Hand, das Wort ab. Trotz des schwachen Lichts funkelten ihre Augen.
Er atmete tief ein und scharf wieder aus. „Was ist dein Problem?
Ich will dir doch nur helfen!“
„Genau das ist es, ich will keine Hilfe, ich komm gut alleine klar!
Du hättest mich nicht mitnehmen sollen. Du hast dich nur selbst in
Gefahr gebracht!“
Er stand auf und fuhr sich machtlos mit den Händen durch die
Haare. Er kickte eine leere Dose davon, welche gegen eine volle
Mülltonne donnerte.
„Du spinnst ja total! Hast du dich schon mal im Spiegel gesehen?“,
brach es aus ihm heraus, und er sprang auf. Er schaute auf sie
hinunter. „Du lagst bewusstlos am Boden, und dein Arm sieht aus,
als hätte dir jemand ein Stück Fleisch herausgerissen. Mit etwas
Glück holst du dir eine Blutvergiftung, wenn du nicht schon vorher
irgendwie unter die Hunde kommst. Die Stadt ist nicht so sicher, wie
sie am Tage glänzt.“
Sie schloss die Augen und schwieg. Sie war so müde.
Er lief ungeduldig auf und ab, sie machte ihn noch wahnsinnig!,
dachte er.
„Geh einfach, ich hab alles unter Kontrolle, wie oft soll ich das
noch sagen. Bin eh bald wieder weg aus dieser Drecksstadt“, sagte
sie leise.
Sie kramte in ihren Manteltaschen und fischte ein Haargummi heraus,
mit dem sie ihre Haare zusammenband.
Er hockte sich wieder neben sie und sah sie eindringlich an.
„Was ist dein Problem? Warum kannst du mir nicht einfach
sagen, was passiert ist? Du bist doch bestimmt nicht einfach so zum
Vergnügen hier? Kennst du hier jemanden? Bist du beruflich hier?“
Sie ignorierte ihn und rappelte sich langsam auf, er ging
automatisch mit ihr hoch. Ihr war übel und ihr Kopf hämmerte. Das
heiße Pulsieren in ihrem Körper ignorierte sie.
„Warum kapierst du es nicht...“, begann sie kaum hörbar zu
sprechen. Ihr Mund war wie ausgetrocknet, und ihr ganzer Körper
schmerzte, dennoch setzte sie einen Fuß vor dem anderen Richtung
Straße. „Lass mich doch einfach in Ruhe, ich will deine Hilfe
nicht.“ Sie sah ihn erschöpft an.
„Okay...du willst also, dass ich gehe, dass ich deinen Zustand
ignoriere, und wahrscheinlich auch, dass du mit großer Sicherheit
schon sehr bald irgendwo tot herumliegen wirst und im Idealfall von
Straßenkötern angeknabbert wirst.“
Er funkelte sie wütend an. Sein Herz raste wieder, und irgendein
unschönes Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus.
„Schön!“ Er schmiss ihr die Wasserflasche und die Bonbontüte,
die er beide noch in den Händen hielt, vor die Füße und rauschte
an ihr vorbei. Er verließ die Gasse ohne sich noch einmal
umzudrehen. In seinem Kopf drehte sich und tobte alles, er verstand
es einfach nicht. Er verstand SIE nicht.
Durch die Gassen irrend, ohne ein Ziel zu haben, lief er immer
weiter. Er versuchte die Gedanken an sie zu verdrängen, zwang sich,
die Leere in den Kopf zu holen.
Nach etlichen Stunden, so kam es ihm vor, steuerte er den
Nachhauseweg an, auch wenn es noch ewig dauern würde. Er lief
einfach weiter, und mit jedem Schritt verrauchte seine Wut. Doch das
unschöne Gefühl in seinem Magen blieb.
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