2. September 2014

Allein

Ich laufe so schnell, wie es in diesen Schuhen nur geht. Meine Reisetasche, die ich über die linke Schulter hängen hab, knallt bei jedem Schritt gegen mein Bein. Ich ignoriere es und hetze weiter.
Innerlich motze ich vor mich hin, frag mich immer wieder, warum ich nicht mal 10 Minuten eher aufstehen kann, und warum ich immer zu Hause herum trödeln muss.
Meine Tasche hatte ich schon am Vorabend gepackt, nur einiges an Badzeug und mein Kuscheltier, eine dicke grüne Schildkröte, stopfte ich heute früh noch hinein.
Ich komme an der U-Bahnstation an und eile hinunter, dabei renne ich fast eine Frau um. Die Bahn steht schon da und in letzter Sekunde springe ich hinein. Mir ist derbe warm und ich reiße meine dünne Strickjacke von mir und bind mir die dünnen, braunen Haare am Hinterkopf zusammen.
Ich brauche dringend einen Kaffee.
Gute zehn Minuten später steige ich aus, mache einen kurzen Halt am Coffeeshop und laufe nun entspannter zum Treffpunkt.
Meine Klasse steht versammelt vor dem großen Reisebus, der Fahrer läd gerade das Gepäck an der Busseite ein. Ich nicke einige Schüler zu, gebe meine Reisetasche ab und laufe zu der kleinen Gruppe am Rande, um meine Freunde zu begrüßen.
Wir umarmen uns und grinsen uns an, schon lange haben wir uns auf diesen dreitägigen Ausflug an die polnische Ostsee gefreut. Alle quatschen durcheinander, sind euphorisch, albern herum. Selbst unser Klassenlehrer scheint bester Laune zu sein.
Ich mische mich einfach ins Gespräch ein, wobei mir die Müdigkeit noch im Nacken sitzt. Normalerweise bin ich kein Morgenmuffel, aber heute komme ich nur schwer in Gang.
Meine Eltern mussten beide zur Arbeit, sodass niemand mich fahren und noch verabschieden konnte. Ich bin es gewohnt und sehe es gelassen.
Es dauert nicht lange, da öffnen sich die Bustüren und unserer Klassenlehrer ruft laut, dass wir einsteigen sollen. Ich reihe mich in die Schlange vorne ein, lasse aus Höflichkeit einige Kameraden vor, wozu jetzt auch noch eilen. Ich suche mit den Augen die belegten Plätze nach meinen Leute ab, und stelle fest, das jeder schon einen Sitznachbarn hat. Ich bin davon ausgegangen, dass Jette und ich zusammen sitzen werden, aber neben ihr sitzt Danny und grinst sie an. Ich bin enttäuscht. Sogar so sehr, dass ich kurz irritiert einfach nur im Gang herumstehe. Hinter mir drängeln die anderen und ich nehme einfach auf der gegenüberliegenden Seite eine Reihe dahinter platz. Ich lass meinen Blick über die anderen schweifen, die vor mir sitzen. Alle unterhalten sich angeregt, lachen. Mich beachtet keiner. Ich sitze allein. Ich bin allein.
Die Erkenntnis kommt so schnell und intensiv, dass ich fast Panik kriege. Ich rücke weiter zum Fenstersitz und kauer mich in den Sitz hinein. Meine Herz pocht so schnell und ich ermahne mich zum Atmen. Ein und aus, ein und aus. Immer gleichmäßig. Ich spüre den Klos im Hals, der sich unweigerlich festgesetzt hat und atme ruhig weiter. Meine Augen fangen an zu brennen und ich schließe und presse sie fest zusammen. Heulen werde ich jetzt auf gar keinen Fall! Doch die Dunkelheit hinter meinen Lidern ist nicht besser. Meine Gedanken rasen, immer wieder zu diesen Augenblick zurück. Ich reiße sie wieder auf und schaue zu der Häuserreihe, vor der wir noch stehen. Alles in Ordnung, es ist okay, ermahne ich mich in Gedanken. Ich atme gleichmäßig weiter, und als der Bus losfuhr, werde ich ruhiger.
Ich erinnere mich an einen Traum den ich vor kurzem hatte. Ich ging zum Haus von Jette, da ich dort im Allgemeinen viel Zeit verbringe. Ich gehe einfach durch die Wohnungstür und finde alle an einem üppigen gedeckten Tisch vor. Sie, ihre Eltern, andere Freunde, sogar Verwandte. Alle reden, lächeln, haben Spaß. Keiner beachtet mich. Und in diesen Moment erkenne ich, dass ich nicht erwünscht bin. Dass ich in dieser Runde einfach herein geplatzt bin, ohne eingeladen worden zu sein. Ich bin nicht willkommen. Niemand ist auf meiner Anwesenheit angewiesen und kommt auch gut ohne mich aus.
Es ist genau das selbe Gefühl. Das Gefühl der Einsamkeit. In Wirklichkeit bin ich allein, habe niemanden. Keiner, der auf mich wartet, keiner, bei dem ich die Nummer 1 bin. Jeder hat wem anderes. Und jetzt hat Jette Danny.
Aus dem Augenwinkel beobachte ich ihre Hinterköpfe. Sie lachen, sie albern rum, keiner dreht sich zu mir herum. Ich bin allein.
Nachdem unser Lehrer die Anwesenheitsliste durchgegangen ist, weist uns der Busfahrer in die Sicherheitsvorkehrungen ein.
Meine Laune sinkt weiter, und ich fühle mich unendlich weit weg von den anderen. Ich fühle mich ausgelaugt, schutzlos und angegriffen. Denn niemand ist für mich da. Ich bin nur das fünfte Rad am Wagen. Plötzlich will ich nicht mehr mitfahren, frage mich wozu.
Ich sinke weiter in meinem Sitz hinein und schlinge die Arme um mich und starre aus dem Fenster. Der Bus rollt aus der Stadt und kurz darauf ziehen Felder, Bäume und dunkle Regenwolken an mir vorbei.
Mein Herz pocht immer noch spürbar in meiner Brust, und ich rede mir weiter ein, dass es okay ist. Ich bin es gewohnt allein zu sein. Meine Eltern sind nie da wenn ich von der Schule komme, ich habe keine Geschwister, Jette hat auch andere Freunde, und generell hat jeder jemand anderen, den er mir vorziehen würde. Es ist okay, ich kenne es nicht anders. Und doch tut es weh. Dieses Gefühl ist so unerträglich, doch darf ich mich es nicht hingeben. Nicht vor den anderen.
Drei Tage lang.